Der Pr?sident er?ffnete die Sitzung mit den Worten, da? die n?chsten Zeugenverh?re sich mit der letzten Lebenszeit der verstorbenen Frau Swieter besch?ftigen würden, und da? er hoffe, es würde von dieser Seite aus mehr Licht auf die noch nicht v?llig aufgekl?rten Vorg?nge fallen. Man sei bis jetzt davon ausgegangen, da? der Angeklagte von dem Inhalt des Testaments keine Kenntnis gehabt habe. Die einzige Person, die darum gewu?t habe, sei die n?chste Freundin der Verstorbenen, Fr?ulein Kunigunde Schwertfeger.
Es sei nicht unm?glich, da? durch deren Aussage, falls sie n?mlich die bisher beobachtete Zurückhaltung aufg?be, das Bild erheblich ver?ndert würde.
Es war für jedermann sichtbar, da? es Fr?ulein Schwertfeger Selbstüberwindung kostete, den Saal zu betreten. Sie war einfach und nicht nach der Mode gekleidet, eine unauff?llige Erscheinung, die nur, wenn man sie eingehend betrachtete, Besonderheit und Reiz verriet. Beides fand man dann reichlich in den fast zu gro?en, offenen, grauen Augen, in der zu kurzen Nase, in dem kleinen, stets etwas ge?ffneten Munde und in dem Mienenspiel, das das ohnehin unregelm??ige Gesicht best?ndig bewegte. Wahrscheinlich, weil sie sich einer kindlichen Unf?higkeit zur Verstellung und einer Neigung unbedacht herauszuplaudern bewu?t war, wappnete sie sich unter Fremden gern mit Vorsicht und Verschwiegenheit, was ihr, verbunden mit der Scheu vor der ?ffentlichkeit, den Ausdruck eines kleinen Tieres im K?fig gab, das gewohnt ist, geneckt zu werden und sich zur Wehr setzen zu müssen.
Nachdem Dr. Zeunemann ihr den Eid abgenommen hatte, forderte er sie auf, das zur Aufkl?rung des Falles Dienliche ohne Vorbehalt zu sagen. Es gebe Leute, fügte er hinzu, die sich für wahrheitsliebend hielten und doch unter Umst?nden ein Verschweigen, eine Lüge für erlaubt, ja sogar für verdienstlich ans?hen. ?Geh?ren Sie zu denen?? fragte er.
Sie z?gerte einen Augenblick und sagte dann, indem sie die gro?en Augen fest auf ihn richtete: ?Ja, das tue ich.?
Ihre kleinen, verarbeiteten und nicht sch?n geformten H?nde schlangen sich dabei fest ineinander.
?Das sind ja gute Aussichten,? sagte Dr. Zeunemann. ?Haben Sie, wenn ich fragen darf, von vornherein die Absicht, uns die Wahrheit nur in Auszügen und Bearbeitungen zuzuteilen??
Sie schüttelte den Kopf und l?chelte, ein lustiges L?cheln, das im Nu ihr ganzes Gesicht überrieselte. ?Nein, nein,? sagte sie treuherzig, ?ich habe die Absicht, die Fragen, die Sie an mich richten werden, nach bestem Wissen und Verm?gen wahrheitsgem?? zu beantworten. Es ist ja nicht gesagt, da? die vorhin erw?hnten Umst?nde hier vorliegen.?
?Nun das ist brav,? sagte der Vorsitzende. ?An die schweren Folgen eines Meineides brauche ich Sie wohl nicht zu erinnern. Nur das will ich sagen, da? wir kurzsichtigen Menschen allemal am besten tun, jede Lüge schlechthin für Lüge, im h??lichsten und abscheulichsten Sinne, anzusehen und uns an die Wahrheit zu halten. Die Folgen liegen in Gottes Hand. Jene Sophismen oder Trugschlüsse, die uns eine Lüge für geboten erscheinen lassen wollen, k?nnen gef?hrliche Irrlichter sein.?
Fr?ulein Schwertfeger nickte ernsthaft.
?Wollen Sie uns und den Herren Geschworenen zun?chst ausführlich erz?hlen, was Sie von der Entstehung des Testamentes der verstorbenen Frau Swieter wissen! Da Sie von früher Jugend an miteinander befreundet waren, wird sie vor der Aufsetzung des Testamentes mit Ihnen davon gesprochen, vielleicht Sie um Ihren Rat gefragt haben??
?O nein,? antwortete Fr?ulein Schwertfeger schnell, ?sie sagte wohl immer: 'Was meinst du dazu, Gundel? Soll ich das tun, Gundel?' Aber das war nur eine Form der H?flichkeit oder Herzlichkeit. In wichtigen Dingen beanspruchte sie nie Rat und h?tte ihn nie angenommen.?
?Um Rat also hat sie nicht gefragt?? sagte Dr. Zeunemann. ?Aber die Beweggründe ihres Willens wird sie doch angegeben haben??
?Ja, das hat sie getan,? antwortete Fr?ulein Schwertfeger.
?Die Verstorbene war schon seit acht Jahren krebsleidend,? sagte Dr. Zeunemann. ?Hat ihr das nicht schon früher, bevor sie das Testament aufsetzte, Anla? gegeben, über ihre letztwilligen Verfügungen zu sprechen??
?Mit mir nie,? sagte Fr?ulein Schwertfeger. ?Und ich glaube, überhaupt nicht. Die ?rzte suchten sie doch immer über den wahren Charakter ihres Leidens zu t?uschen, und sie kam ihnen darin entgegen, erstens, weil ihr überhaupt leicht etwas weiszumachen war, und dann, weil sie in diesem Falle das Bedürfnis hatte, get?uscht zu werden. Sie wollte leben und hoffen. Dazu kommt, da? sie sich nach einer Operation immer wieder vollkommen gesund fühlte.?
?Wie kam es denn,? sagte Dr. Zeunemann, ?da? sie doch zuletzt an das Testament dachte??
?Nun, das ist klar,? sagte Fr?ulein Schwertfeger, ?weil es damals wirklich dem Ende zuging und sie das fühlte. Als ihr vor einem Jahre der schreckliche Anfall kam, nach welchem sie nicht wieder aufgestanden ist, war sie sehr betroffen und wu?te, da? sie nicht wieder gesund werden würde. Sie sprach es nicht aus, aber ich fühlte oft, da? sie es dachte.?
Aufgefordert, den Vorgang ausführlich zu schildern, erz?hlte Fr?ulein Schwertfeger:
?Eines Nachmittags, da ich sie wie gew?hnlich besuchte, empfing sie mich mit den Worten, ich k?me im rechten Augenblick. Sie habe eben beschlossen, ihr Testament zu machen, und ich müsse ihr dabei behilflich sein. Wenn sie wieder gesund würde, so mache es ja nichts, aber sie müsse doch auch die M?glichkeit in Betracht ziehen, da? sie diesmal nicht davonk?me, und ohnehin sei es leichtfertig von ihr, so alt wie sie sei, es noch nicht getan zu haben. Es w?re doch zu sinnlos, wenn die Verwandten ihr Geld bek?men, die ihr fast ganz fremd und die au?erdem reich w?ren. Ich sagte, sterben würde sie noch lange nicht. Ich s?he sie schon im Geiste vor mir, frisch und stark und leichtfü?ig wie früher. Darauf antwortete sie nichts, aber in ihren Augen sah ich, was sie dachte, und sie las wohl dasselbe in meinen.?
?War sie aufgeregt?? fragte Dr. Zeunemann.
?Nein,? sagte Fr?ulein Schwertfeger, indem sie mit einer heldenmütigen Anstrengung die bei der Erinnerung aufsteigenden Tr?nen verschluckte, ?nicht besonders, nur im Anfang zitterte die Stimme ein wenig. Dann sagte ich, da? ich nicht gern mit Testamenten und solchen Sachen zu tun h?tte, besonders wenn es sie anginge. Aber sie h?tte ganz recht. Wenn man Verm?gen bes??e, müsse man ein Testament machen, und sie h?tte es schon l?ngst tun sollen. Was sie denn mit ihrem Gelde vorh?tte, wenn ihre Verwandten es nicht bekommen sollten? Sie wurde darauf sehr verlegen und machte eine lange Vorrede, ich würde gewi? erstaunt sein und sie auslachen und sie schelten, bis sie mir endlich sagte, da? sie Dr. Deruga zu ihrem Erben einsetzen wollte.?
?Bitte, einen Augenblick,? unterbrach Dr. Zeunemann. ?Ihre Freundin setzte voraus, da? der Entschlu? Sie überraschen würde. Hatte sie früher einmal andere Pl?ne ge?u?ert? Wenn man Sie vorher nach den Absichten Ihrer Freundin gefragt h?tte, h?tten Sie gar keine Ahnung oder Meinung gehabt??
?Doch, das h?tte ich,? sagte Fr?ulein Schwertfeger. ?Ich hatte immer geglaubt, sie würde eine Stiftung für arme Kinder machen, zum Andenken an ihr eigenes verstorbenes Kind, und weil sie überhaupt Kinder so sehr liebte. Sie pflegte zu sagen, schlecht ern?hrte, traurige Kinder w?ren ein Schandfleck der Gesellschaft. Sie ging darin so weit, da? sie jedes Kind, das sie zuf?llig schreien h?rte, für ein mi?handeltes hielt. Ich sagte oft zu ihr, um sie zu tr?sten: 'Wei?t du, das ist wirklich ein eigensinniger Balg.' Aber im Grunde glaubte sie mir nicht. Wir hatten auch von Einrichtungen gesprochen, die man zugunsten armer Kinder machen k?nnte.?
?Erinnerten Sie sie denn nicht daran?? fragte Dr. Zeunemann, ?oder hielt sie es nicht von selbst für n?tig, ihre Sinnes?nderung zu erkl?ren??
?Sie sagte, sie h?tte bei Stiftungen immer den Verdacht, das Geld k?me gar nicht denen zugute, für die man es bestimmt h?tte.?
Fr?ulein Schwertfeger stockte, nachdem sie dies erkl?rt hatte, und war augenscheinlich ungewi?, ob sie noch was hinzufügen müsse oder fortfahren dürfe.
?Und irgendeinen Weg, diese Gefahr zu vermeiden, hatte ihre Freundin nie ins Auge gefa?t?? ermunterte der Vorsitzende.
Das Fr?ulein fa?te nach kurzem Kampfe augenscheinlich Mut und sagte:
?Sie hatte die Absicht gehabt, ihr Verm?gen mir zu vermachen, sowohl, damit ich mein Leben bequemer einrichten k?nnte - meine Freundin stellte sich das Leben einer Zeichenlehrerin n?mlich sehr mühsam vor - und dann, weil sie wu?te, ich würde in ihrem Sinne damit für arme Kinder wirken.?
?Ja so!? sagte Dr. Zeunemann, ?Ihnen hatte sie ihr Verm?gen vermachen wollen. Das ist doch aber keine Kleinigkeit, wenn man in einer solchen Sache pl?tzlich umschwenkt. Das mu? sie Ihnen doch erkl?rt und entschuldigt haben??
Fr?ulein Schwertfeger machte ein stolz abwehrendes Gesicht. ?Das mu?te sie gar nicht,? sagte sie, ?wir waren doch befreundet. Allerdings bedrückte es sie, und sie wollte mir weitl?ufig auseinandersetzen, warum sie so handelte. Sie h?tte einmal geh?rt, da? es Dr. Deruga schlecht ginge, und da? er sehr heruntergekommen w?re, und daran müsse sie fortw?hrend denken. Er sei der Vater ihres geliebten Kindes und h?tte sie liebgehabt, und sie k?nne sich noch immer nicht von dem Gedanken entw?hnen, da?, was ihr geh?re, eigentlich auch sein sei. Kurz, sie würde nicht ruhig sterben k?nnen, wenn sie ihn nicht durch ihr Verm?gen vor Not geschützt wisse. Natürlich lie? ich sie gar nicht ausreden, sondern tr?stete sie und versicherte sie, da? das Geld mich nur in Verlegenheit setzen würde, weil ich denken würde, ich müsse es irgendwie ausgeben und wisse nicht wie, und da? ich mein Leben nicht anders einrichten m?chte, weil ich es einmal so gew?hnt w?re und ich mich wohl dabei fühlte. Das Geld würde mich nur an ihren Verlust erinnern und mir dadurch verha?t werden.?
?Es ist doch aber sonderbar,? sagte der Vorsitzende, ?da? Ihre Freundin Ihnen nicht wenigstens ein Legat ausgesetzt hat wie ihrem Dienstm?dchen.?
?Das unterlie? sie auf meinen Wunsch,? sagte Fr?ulein Schwertfeger kurz.
?Ich bitte einen Augenblick ums Wort,? schaltete pl?tzlich der Staatsanwalt ein. ?Nach der Darstellung der Zeugin hatte ich den Eindruck, als habe die von ihr mitgeteilte Unterredung, der sich die Abfassung des Testamentes anschlo?, gleich nach der letzten, schweren Erkrankung ihrer Freundin, also im M?rz oder April, stattgefunden. Dagegen ist das vorliegende Testament vom 19. September, also vierzehn Tage vor dem Tode derselben, datiert.?
Fr?ulein Schwertfeger entgegnete nichts, sondern warf nur einen langen, feindseligen Blick auf den Fragesteller, wie auf einen unberufenerweise sich Einmischenden, und sah dann wieder den Vorsitzenden an.
?Wollen Sie uns darüber aufkl?ren, mein Fr?ulein,? bat dieser freundlich.
?Meine Freundin schrieb das Testament zuerst im Frühling,? sagte Fr?ulein Schwertfeger, ?und am 19. September schrieb sie es noch einmal ab.?
?Es blieb also unver?ndert?? fragte der Vorsitzende.
?Meine Freundin erh?hte die Summe, die sie der Ursula, ihrem Dienstm?dchen, ausgesetzt hatte,? sagte Fr?ulein Schwertfeger.
?Vermutlich,? sagte Dr. Zeunemann, ?hatte das M?dchen sie w?hrend ihrer schweren Krankheit so gut verpflegt, da? sie ihre Dankbarkeit mehr zum Ausdruck bringen wollte.?
Fr?ulein Schwertfeger nickte und sah den Vorsitzenden herzlich an. ?Dafür,? setzte sie hinzu, ?fiel jetzt auf meinen Wunsch das Legat fort, das in der ersten Fassung mir ausgesetzt war.?
?Wenn es so weiter geht, wird unvermerkt noch ein ganz neues Testament aus der unver?nderten Abschrift,? bemerkte der Staatsanwalt mit diabolischem Kichern.
?Sie hatten also anf?nglich nichts gegen das Legat einzuwenden gehabt,? sagte der Vorsitzende. ?Aus welchem Grunde lehnten Sie es jetzt ab? Es war doch nichts zwischen Sie und Ihre Freundin getreten??
?O nein, nein,? beteuerte Fr?ulein Schwertfeger lebhaft. ?Ich gab nur damals nach, um sie nicht aufzuregen; aber ich beschlo? von Anfang an, das Legat gelegentlich rückg?ngig zu machen, weil es mir nicht pa?te.? Da sie das sp?ttisch-ungl?ubige L?cheln des Staatsanwalts bemerkte, warf sie mit einer kleinen, trotzigen Geb?rde den Kopf zurück und pre?te die Lippen zusammen.
Nach einer Pause nahm der Vorsitzende das Verh?r wieder auf, indem er fragte: ?Ist die Verstorbene in der Folge, ich meine nach der ersten Abfassung, noch ?fters auf das Testament zurückgekommen??
?Nein,? sagte Fr?ulein Schwertfeger entschieden. ?Es war kein angenehmer Gespr?chsgegenstand für uns beide.?
Der Staatsanwalt lachte h?rbar, als wolle er sagen, es scheine auch jetzt keiner für sie zu sein, worauf sie einen vernichtenden Blick nach der Richtung seines Platzes warf.
?Hat Frau Swieter Ihnen nie erz?hlt oder Andeutungen gemacht,? fragte der Vorsitzende mit freundlicher Dringlichkeit, ?ob irgendein besonderer Anla? vorlag, der sie bewog, ihr Testament zugunsten des Angeklagten zu machen? Sie sprach, wie Sie erz?hlten, davon, da? es ihm schlecht ginge, da? er heruntergekommen sei. Wie war ihr das zu Ohren gekommen? Hatten sich vielleicht Gl?ubiger von ihm an sie gewendet? Oder sollte er selbst sie um Geld angegangen haben??
?Das wei? ich nicht,? sagte Fr?ulein Schwertfeger, ?aber ich glaube es nicht, weil sie es mir gewi? erz?hlt haben würde. Sie h?tte mir dadurch ihr Testament ja viel leichter erkl?ren k?nnen. Da? es Herrn Dr. Deruga nicht gut ging, wu?te sie schon lange; es gibt unz?hlige Wege, auf denen einem solche Gerüchte zu Ohren kommen.?
?Sprach Ihre Freundin zuweilen mit Ihnen über den Angeklagten?? fragte Dr. Zeunemann.
?Nein, fast nie,? sagte Fr?ulein Schwertfeger. ?Sie glaubte, da? ich kein Verst?ndnis für ihn h?tte.?
?Also,? fiel der Staatsanwalt ein, ?konnten sehr wohl Beziehungen zwischen Ihrer Freundin und ihrem geschiedenen Gatten bestehen, ohne da? Sie Kenntnis davon hatten.?
Fr?ulein Schwertfeger warf den Kopf zurück und kr?uselte ver?chtlich ihre kurze Oberlippe.
?Es soll selbstverst?ndlich nichts Nachteiliges über Ihre Freundin ge?u?ert werden,? sagte der Vorsitzende vermittelnd. ?Immerhin k?nnte sie Ihnen etwas verschwiegen haben, um nicht ein tadelndes Urteil von Ihnen h?ren zu müssen.?
?M?glich w?re das,? sagte Fr?ulein Schwertfeger, ?aber sehr unwahrscheinlich. Es liegt jedenfalls kein Grund vor, so etwas anzunehmen. Ihr Verm?gen vermachte sie ihm einfach, weil er der Vater ihres Kindes war und sie, ihrer Meinung nach, geliebt hatte. Ich erinnere mich, da? sie früher einmal sagte, die Ehe w?re ihrem Wesen nach unaufl?slich, wenn sie durch Kinder befestigt w?re, und als jemand widersprach, sagte sie, vielleicht w?re das nicht allgemein gültig, aber sie h?tte die Erfahrung an sich gemacht. Meine Freundin war ihrer anschmiegenden Natur nach nicht geeignet, alleinzustehen, und vielleicht hatte sie sich unbewu?t diese Theorie gebildet, um sich wenigstens seelisch noch gebunden zu fühlen.?
?Wenn ich Sie nicht schon über Gebühr angestrengt habe,? sagte Dr. Zeunemann h?flich, ?m?chte ich Sie bitten, uns zu erkl?ren, wie es kommt, da? Sie und Frau Swieter, so vertraut sie miteinander waren, in der Beurteilung des Angeklagten so sehr voneinander abwichen.?
Fr?ulein Schwertfeger lachte ein wenig. ?Warum ein Mensch einen anderen liebt, versteht der Dritte selten. Au?erdem kann man wohl selbst einem Menschen das Unrecht verzeihen, das er einem getan hat; die Freunde aber werden am wenigsten dazu geneigt sein.?
?Danach sind Sie der Meinung,? sagte der Vorsitzende, ?da? der Angeklagte an dem ehelichen Zerwürfnis schuld war??
?Er qu?lte sie durch sein launisches, ma?loses Wesen,? sagte Fr?ulein Schwertfeger mit Zurückhaltung.
?Trotzdem, und da Frau Swieter seinerzeit selbst auf der Scheidung bestand,? sagte der Vorsitzende, ?scheint es, da? sie fortfuhr, an ihrem geschiedenen Manne zu h?ngen. K?nnen Sie, als ihre Freundin, uns vielleicht zum Verstehen dieses Widerspruches helfen??
Fr?ulein Schwertfeger dachte eine Weile nach und sagte dann:
?Widersprüche gibt es in jedem einzelnen Menschen und um so mehr in den Beziehungen zwischen zweien. Als meine Freundin noch verheiratet war, schenkte sie ihrem Manne einmal ein Buch zum Geburtstage; und als er eine Widmung darin haben wollte, schrieb sie auf das erste Blatt:
'Deruga, du bist eben
So sch?n als wunderlich.
Man kann nicht ohne dich
Und auch nicht mit dir leben.'
Es ist ein Epigramm, das Lessing auf eine gewisse Klothilde gemacht hat.?
Die Zuh?rer lachten, aber Dr. Zeunemann blieb ganz ernst. ?Noch mit einer Frage m?chte ich Sie bel?stigen,? sagte er. ?Frau Swieter soll au?erordentlich furchtsam gewesen sein. Die Furcht vor dem hitzigen Temperament ihres Gatten soll sie mit zur Scheidung bewogen haben. Glauben Sie, da? sie sich auch nach der Scheidung noch vor ihm gefürchtet hat??
?O nein, vor Deruga nicht,? sagte Fr?ulein Schwertfeger mit überzeugung. ?Vor ein paar Jahren las sie einmal in der Zeitung, da? ein Mann seiner von ihm geschiedenen Frau aufgelauert und sie erstochen habe. Mit Bezug darauf sagte sie, das k?me h?ufig vor, und Frauen, die sich von ihren M?nnern trennen wollten oder getrennt h?tten, mü?ten eigentlich irgendwie geschützt werden. Ich sagte, sie solle doch die dummen Zeitungen nicht lesen, die H?lfte von allem, was darin stünde, w?re erlogen. Da lachte sie und sagte, ich meinte wohl, sie fürchtete sich? Und dann erkl?rte sie mir, Deruga sei zwar bei den kleinen Reibungen, die im Zusammenleben unvermeidlich w?ren, ma?los heftig gewesen und auch nicht frei von Rachsucht, aber von langer Dauer sei das nie gewesen, und sie sei gewi?, da? er gegen sie keinen Groll hege. Daher wei? ich bestimmt, da? sie keinerlei Furcht vor ihm hatte. Im allgemeinen allerdings war sie sehr furchtsam und bevorzugte zum Beispiel zum Wohnen den dritten Stock, weil sie da vor Einbrechern am geschütztesten zu sein glaubte. Sie fürchtete sich auch sehr vor dem Tode, obwohl sie ihn andererseits als eine Wiedervereinigung mit ihrem Kinde ersehnte.?
?Vermutlich fürchtete sie nicht den Tod, sondern das Sterben,? sagte der Vorsitzende, ?das sie sich als qualvoll vorstellte.?
?Ja,? stimmte Fr?ulein Schwertfeger zu, ?sie hatte gro?e Angst vor Schmerzen und mu?te doch so schrecklich aushalten.?
Der Staatsanwalt fragte, ob die Kranke infolge der Schmerzen jemals St?rungen oder Trübungen des Bewu?tseins gehabt h?tte.
?O nein,? sagte Fr?ulein Schwertfeger mit einem L?cheln, den Blick auf Dr. Zeunemann gerichtet, ?sie klagte im Gegenteil zuweilen darüber, da? ihr Kopf bei den gr??ten Qualen stets klar bleibe. Einmal fragte sie mich, ob ich sie lieb genug h?tte, um ihr ein Gift zu geben, das sie von ihrem Leiden erl?ste. Ich war sehr erschrocken und sagte, ich h?tte sie zu lieb dazu, ich k?nnte so etwas nicht denken, geschweige denn es tun. Dann erinnerte ich sie daran, wie sie sich doch des Lebens wieder freuen k?nne, sobald ihr besser sei, und da? sie vielleicht wieder ganz gesund würde, und wie bald dann die Schmerzen vergessen sein würden, so wie ich sie kennte. Da lachte sie und tr?stete mich und sagte, ich h?tte ganz recht, sie hoffe noch einmal zu prahlen mit dem, was sie so tapfer ausgehalten h?tte. Es gab jedenfalls keinen Augenblick, in dem sie nicht genau gewu?t h?tte, was sie tat.?
?Es erübrigt nun noch eine Frage, deren Antwort im verneinenden Sinne mir zwar schon in Ihren übrigen Aussagen inbegriffen scheint, die ich aber doch ausdrücklich stellen mu?: Hat Frau Swieter ihren geschiedenen Mann von dem Inhalt ihres Testamentes in Kenntnis gesetzt??
?Das wei? ich nicht,? sagte Fr?ulein Schwertfeger. ?Ich glaube es auch nicht. Wozu sollte sie es getan haben??
?Das wollen wir zun?chst dahingestellt sein lassen,? sagte der Vorsitzende. ?Gesetzt den Fall, sie h?tte es ihm mitteilen wollen, so h?tte sie ihm schreiben müssen. Da sie in jener Zeit nicht mehr aufstand, geschweige denn ausging, mu?te sie den Brief irgend jemandem zur Besorgung geben. Durch Sie hat sie es also nicht getan??
?Nein,? sagte Fr?ulein Schwertfeger.
?Hat sie Ihnen überhaupt nie Briefe zur Besorgung mitgegeben??
?Vielleicht,? sagte Fr?ulein Schwertfeger, ?ich erinnere mich nicht; aber keinen an Dr. Deruga.?
?Er konnte vielleicht anders adressiert sein, um Sie irrezuführen??
?O nein,? sagte Fr?ulein Schwertfeger, die Stirn faltend, ?das h?tte sie vorher mit ihm verabreden müssen. Solche Schleichwege h?tte sie nicht gew?hlt, dafür stehe ich ein.?
?Ich glaube Ihnen, Fr?ulein Schwertfeger,? sagte der Vorsitzende nach einer kleinen Pause. ?Ich verlasse mich auf Ihre Wahrheitsliebe. Sie sind Lehrerin, die Jugend ist Ihrem Einflu? anvertraut, Sie genie?en die Liebe und Verehrung Ihrer Schülerinnen sowohl wie der Eltern derselben und werden das nicht um eines Hirngespinstes willen verschweigen wollen. Sie haben also weder dem Angeklagten im Auftrage Ihrer Freundin von dem Inhalte ihres Testamentes Mitteilung gemacht, noch haben Sie einen Brief Ihrer Freundin besorgt, in welchem diese Mitteilung enthalten war oder allenfalls h?tte enthalten sein k?nnen??
?Nein,? sagte Fr?ulein Schwertfeger.
?Sie sind also überzeugt, da? der Angeklagte von dem Testamente keine Kenntnis hatte??
?Ich bin überzeugt davon,? antwortete sie.
Dr. Zeunemann bedachte sich und sagte, er wolle das Verh?r damit abschlie?en, sie würde ohnehin ermüdet sein. In der Tat sah sie sehr bla? aus, so da? ihre gro?en Augen beinah schwarz schienen.
?O ja, ich bin sehr müde,? sagte sie, ?darf ich gehen??
Dr. Zeunemann erkl?rte ihr, da? sie zwar jetzt, da Mittagspause sei, wie alle anderen gehen dürfe, da? er aber für die Dauer des Prozesses um ihre Anwesenheit bitten müsse, worauf sie sich durch eine kurze Neigung des Kopfes verabschiedete.
?Ein wackeres Altjüngferchen,? sagte Justizrat Fein zu Deruga, ?obwohl sie nicht die beste Meinung von Ihnen hat.?
?Gute, dumme Gans,? antwortete dieser kurz. Er hatte mit aufgestütztem Kopf und verdecktem Gesicht dagesessen und richtete sich jetzt auf wie jemand, der in dem Labyrinth einer dunklen Musik versunken war, wenn sie pl?tzlich abrei?t. Der stechende Blick, den er durch den Saal gleiten lie?, blieb zuf?llig an der Baronin Truschkowitz h?ngen, die, eben im Aufstehen begriffen, ihrem einige Pl?tze von ihr entfernt sitzenden Anwalt ein Zeichen mit den Augen gab, und er sagte: ?Unausstehliche Person; pa?t ganz zu der schmutzigen Sache, die sie vertritt.?
?Na, wissen Sie,? entgegnete der Justizrat. ?Da? die Baronin sich ungern ein Verm?gen entwinden l??t, auf das sie gerechnet hatte, ist menschlich, und da? sie Ihnen allerhand B?ses zutraut, um so eher zu entschuldigen, als sie Sie nicht kennt.?
?Halten Sie das für eine Entschuldigung?? sagte Deruga scharf. ?Weil sie selbst gierig ist, kann sie sich auch bei anderen kein anderes Motiv vorstellen; das ist ihre Menschenkenntnis. Ekelhaft!?
Die Besprochene war unterdessen auf die Freitreppe des Gerichtsgeb?udes gelangt und blickte durch die Lorgnette ungeduldig um sich. ?Ich bin ganz erregt?, sagte sie zu Dr. Bernburger, ?über die Art und Weise, wie man mit diesem Fr?ulein umgeht. Sie mag ja übrigens ein anst?ndiges M?dchen sein. Aber es ist klar, da? sie nicht die Wahrheit sagt, und ich begreife nicht, da? man das so gehen l??t.?
?Ja, das ist eine heikle Sache, Gn?digste,? sagte Dr. Bernburger, ?die Folter ist l?ngst abgeschafft.?
?Das war eben sehr voreilig,? sagte die Baronin. ?Die Alten waren in vieler Hinsicht klüger als wir und wu?ten recht gut, warum sie sie anwendeten. Aber wir müssen doch auch Mittel haben, um die Wahrheit aus den Leuten herauszubringen. Ich würde ganz anders vorgehen, wenn ich der Pr?sident w?re. Aber Sie kommen mir zerstreut vor, Herr Doktor.?
?Im Gegenteil,? sagte Dr. Bernburger, ?ich bin vertieft in unser Problem.?
?Und haben Sie bemerkt,? fuhr die Baronin fort, ?da? sie gerade das zugab, was sie bestreiten wollte, n?mlich da? meine Kusine sich vor ihrem geschiedenen Mann fürchtete? Und wie interessant, da? die M?nner eine Neigung haben, ihre geschiedene Frau umzubringen! Man mu? es sich doch sehr überlegen, ehe man den Schritt tut.?
?Ich hoffe, Kind,? sagte der neben ihr stehende Baron gutmütig, ?das ist nicht der einzige Grund, der dich abh?lt, dich scheiden zu lassen.?
Sie sah ihn mit einem L?cheln an, in dem ein leichter Spott lag, und sagte: ?Nein, mein Teurer, du bist viel zu ritterlich, als da? ich mich vor dir fürchten k?nnte.?
Gleichzeitig winkte sie dem wartenden Schoff?r, das Auto n?her heranzulenken, und entlie? ihren Anwalt mit flüchtigem Gru?.
Der Staatsanwalt hatte sich beim Verlassen des Saales an Dr. Zeunemann geh?ngt und begleitete ihn unter vorwurfsvollen Reden in sein Zimmer. Es sei klar, sonnenklar, sagte er, da? dies Muster - er meinte Fr?ulein Schwertfeger - den Brief besorgt habe. Das Muster habe keine übung im Lügen. Er wolle gerecht sein, aber gelogen habe sie. Da müsse eingeschritten werden! Oder ob wieder einmal durch die Gunst der Frauen ein Elender der verdienten Strafe entzogen werden solle? Dieser Mensch besitze die Gunst der Frauen, und im Leben wie im Salon h?nge ja heutzutage der Mann von der Gunst der Frauen ab. Ob es denn aber nicht zum Himmel schreie, wenn auch das Recht durch Weiberlaunen gemacht würde!
Der Staatsanwalt rang w?hrend dieser Reden die H?nde und fuhr sich durch die langen, dünnen Haare, die verwildert nach allen Seiten hingen.
?Beruhigen Sie sich, Herr Kollege,? sagte Dr. Zeunemann mi?billigend, ?bei Fr?ulein Schwertfeger trifft Ihre Zwangsvorstellung von der Gunst der Frauen nicht zu, sie hat offenbar eine Abneigung gegen ihn.?
?Worte!? rief der Staatsanwalt verzweifelt. ?Worte, Worte! In der Tat begünstigt sie ihn. Wahrscheinlich hat sie selbst an ihn geschrieben. Ist es nicht sonnenklar?? wendete er sich an die beiden Beisitzer.
Diese best?tigten, da? ihnen das Verhalten von Fr?ulein Schwertfeger auffallend vorgekommen sei; aber es lie?e sich auch anders, zum Beispiel durch die den Frauen eigentümliche Scheu vor der ?ffentlichkeit, erkl?ren.
?Ach Gott,? jammerte der Staatsanwalt, ?wohin soll das führen, wenn ein so sch?biges altes Muster schon den Scharfblick bew?hrter Juristen trüben kann!?
?Lieber Herr Kollege,? sagte Dr. Zeunemann, nach der Uhr sehend, ?Sie bedürfen ebenso wie wir des Mittagessens und der Mittagsruhe. Schlafen Sie ein Viertelstündchen! Und künftig bitte ich Sie die Fragen zu stellen, die Sie für zweckm??ig halten.?
?Was hilft es, Fragen zu stellen, wenn man mit Lügen abgespeist wird?? sagte der Staatsanwalt bitter. ?Ich wei? jetzt, was ich wissen wollte, n?mlich da? es sich so verh?lt, wie ich von Anfang sagte: es war kein Totschlag, sondern vorbedachter Mord. Als er erfuhr, da? sie ihm ihr Verm?gen vermacht hatte, beschlo? er sie zu t?ten, ehe sie etwa, durch ihre Verwandten beeinflu?t, anderen Sinnes werden und das Testament umsto?en k?nnte.?
?Soll ich Ihnen Ihre Insinuationen zurückgeben,? sagte Dr. Zeunemann, ?und den Argwohn ?u?ern, da? Sie die Dinge durch eine von der Baronin Truschkowitz aufgesetzte Brille ansehen? Vergleicht man ihre Reize mit denen des Fr?uleins Schwertfeger, so erscheint dieser Verdacht beinahe begründet.?
Der Staatsanwalt, dem die Neckerei augenscheinlich schmeichelte, mu?te lachen. Indessen, fügte er brummend hinzu, ein Proze?, bei dem Weiber beteiligt w?ren, arte immer in Tratsch aus, es mü?ten ihm aber alle bezeugen, da? er von Anfang an der überzeugung gewesen sei, es handele sich um Mord.
Ja, sagte Dr. Zeunemann, und er bezeuge freiwillig noch dazu, da? der Staatsanwalt in seine ersten überzeugungen verliebt zu sein pflege, wie eine Mutter in ihr Kind, bis das zweite k?me und jenes verdr?ngte.
* * *